Ausländer können nicht wählen, Städterinnen schon

Die SVP will mit der Bewirtschaftung des Stadt-Land-Konflikts die Wahlen 2023 gewinnen. Ob es diesen tatsächlich gibt, sei mal dahingestellt. Nachdem die SVP am 13. Juni gerade wegen der hohen Mobilisierung der konservativen Wählerschaft auf dem Land einen grossen Sieg einfahren konnte, scheint diese Strategie jedenfalls naheliegend. Aber ist sie auch tatsächlich erfolgversprechend?

Jede Wahlkampagne hat zwei Ziele: Überzeugen und mobilisieren. Öffentlichkeit und Medien schauen dabei vor allem auf ersteres. Geschichten von langjährigen SP-Wählern, die zur SVP überlaufen, lesen sich halt süffig. Doch der Eindruck trügt: Wechsel zwischen politischen Lagern sind sehr selten, politische Werthaltungen auf individueller Ebene sehr stabil. Es ist für Parteien darum einfacher, günstiger und erfolgversprechender, das bestehende Potenzial auszuschöpfen und die eigene Wählerschaft an die Urne zu bringen. Erst recht in der Schweiz, wo die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen unter 50% liegt.

So ist auch die neue Strategie der SVP zu verstehen, die am 1. August öffentlichkeitswirksam den Stadt-Land-Graben zum Wahlkampfthema gemacht hat. Die SVP hat nämlich die Wahlen 2019 richtig analysiert und festgestellt, dass nur 47% ihrer Sympathisant*innen zur Wahl gingen, weit weniger als bei CVP (66%), SP (60%) oder FDP (57%). Ein Muster, das sich bei der Abstimmung zur SVP-Kündigungsinitiative im September 2020 wiederholte. Auch dort war das rechte Lager unterdurschnittlich mobilisiert.

Ganz anders bei der Abstimmung vom 13. Juni 2021. Die Trinkwasser-Initiative und die Pestizid-Initiative sorgten insbesondere in der konservativen Wählerschaft für eine Rekordbeteiligung, wodurch neben den zwei Agrar-Initiativen auch gleich das CO2-Gesetz versenkt wurde. Ein Triumph für die SVP! Und Balsam auf die Seele der Partei nach einer Reihe schmerzlicher Niederlagen. Vor allem aber zeigte der 13. Juni wieder einmal, wie gross der Einfluss der Mobilisierung auf Abstimmungs- und Wahlergebnisse ist.

Offensichtlich hat die SVP auch daraus ihre Schlüsse gezogen. Ihr Wählerpotenzial liegt auf dem Land, das ist bekannt. Ergo muss sie die Landbevölkerung mobilisieren. Und für eine starke Mobilisierung braucht es emotional aufgeladene Themen und plakative Feindbilder. Wenn also Ausländer und Europa nicht mehr ziehen, so werden halt die “linken” Städte zum Feindbild gemacht. Denn, so die Logik der SVP: Geht die rechtskonservative Wählerschaft bei den Wahlen 2023 in so grosser Zahl an die Urne wie am 13. Juni 2021, dann wird die SVP zulegen.

Allerdings hat die SVP die Rechnung ohne die Stadtbevölkerung gemacht. Denn im Gegensatz zu Ausländer*innen oder EU-Bürger*innen können die Menschen in den Städten auch wählen. Und das werden sie tun! Die Erfahrung zeigt: Gerade auf die linke Wählerschaft wirkt nichts mobilisierender als die SVP. Das Feindbild zieht halt auch dort. Wenn die SVP also einen Stadt-Land-Konflikt heraufbeschwört, dann wird sie damit auch die städtische Wählerschaft an die Urne treiben. SP, Grüne und GLP, die in den urbanen Gebieten ihre Hochburgen haben, können Danke sagen.

Die aus Kampagnensicht beste Mobilisierung wirkt asymmetrisch: Sie mobilisiert die eigene Seite und hält die andere Seite von der Urne fern. So hat Donald Trump die Wahlen 2016 gewonnen. Mit Krawall und Grenzüberschreitungen hat er seine Wählerschaft maximal mobilisiert, während mit gezielten Social-Media-Kampagnen Wähler*innen der Demokraten - insbesondere Schwarze Wähler*innen - vom Wählen abgehalten werden sollten.

Die SVP-Strategie mit dem Stadt-Land-Konflikt dürfte jedoch symmetrisch mobilisieren, also auf beiden Seiten. Grössere Verschiebungen zwischen den Lagern sind damit 2023 nicht zu erwarten. Die Mobilisierung rechts wird ausgeglichen durch eine Mobilisierung links. Weniger Freude an dieser Polarisierung werden die bürgerlichen Parteien haben, die sich in der Mitte oder Mitte-rechts verorten. Die Gewinne der SVP dürften auf ihre Kosten gehen. Der grösste Verlierer der Wahlen 2023 dürfte jedoch der soziale Zusammenhalt im Land sein. Aber der war der SVP ja noch nie besonders wichtig...

Michael Sorg arbeitet bei Feinheit als Kampagnen- und Kommunikationsberater mit Schwerpunkt politische Kampagnen. Zuvor war er Mediensprecher und Co-Generalsekretär der SP Schweiz.